Persönliche Erklärung: Flüchtlingscamp Moria

Bild: Benno Kraehahn

Persönliche Erklärung der Abgeordneten Dr. Nina Scheer zum Abstimmungsverhalten nach § 31 Absatz 1 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages zu TOP ZP 18, Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Inneres und Heimat (4. Ausschuss) zu dem Antrag der Fraktion DIE LINKE. „Konsequenzen aus dem Brand in Moria ziehen – Lager auf den griechischen Inseln auflösen und Geflüchtete in Deutschland aufnehmen“, Drucksachen 19/22264, 19/22579 und ZP 25, Beratung des Antrags der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENNach dem Brand von Moria – Für schnelle Nothilfe und einen menschenrechtsbasierten Neustart der europäischen Flüchtlingspolitik“, Drucksach19/22679 

Die Zustände auf Lesbos und den anderen griechischen Inseln sind seit langem unhaltbar. Indem das Flüchtlingscamp Moria abbrannte, hat sich die akute Notlage erneut dramatisch verschärft und zur unmittelbaren Obdachlosigkeit von tausenden Menschen geführt. In dieser akuten Not ist erst recht schnelles Handeln gefordert – und zwar auf mehreren Ebenen. Unverzüglich müssen alle verfügbaren mobilen Einrichtungen zur Unterbringung und auch medizinischen Versorgung der Menschen, auch Schiffe mit Versorgungslogistik, nach Lesbos verbracht und vor Ort eingesetzt werden. Wer allein die Evakuierung in den Blick nimmt, muss sich vorhalten lassen, das unmittelbare akute Leid zu ignorieren. Denn auch bei einer schnellstmöglichen Evakuierung muss für die bis dahin unvermeidbare Übergangszeit eine Unterbringung und Versorgung von tausenden Menschen sichergestellt werden. Jeder einzelne Tag ohne eine solche Versorgung verschärft die menschenunwürdigen Zustände und ist logistisch wie ökonomisch vermeidbar. 

In humanitärer Pflicht und im Verhältnis zu unseren logistischen wie ökonomischen Möglichkeiten sowie der Bereitschaft in den Kommunen und Ländern muss Deutschland ermöglichen, die Menschen aufzunehmen – notfalls auch im Alleingang. Zwar kann dies falsche Anreize setzen. Dieser Umstand wiegt nach meiner Überzeugung aber nicht so schwer wie die akut gegebene Hilfspflicht gegenüber in Not geratenen Menschen. Die Evakuierung von mehreren Tausend Menschen nach Deutschland wäre für Deutschland möglich und ist somit unsere humanitäre Pflicht. Dennoch findet eine Evakuierung in diesem Umfang in der Großen Koalition keine mehrheitliche Zustimmung. 

Im Koalitionsvertrag haben sich die Fraktionen von CDU/CSU und SPD auf ein einheitliches Abstimmungsverhalten im Deutschen Bundestag verständigt, da andernfalls das Vereinbarte leicht ausgehebelt werden könnte. Insofern ist es meiner Fraktion und mir auch nicht möglich, einen eigenen Antrag einzubringen, der das mehrheitlich in der SPD-Fraktion für notwendig erachtete Handeln verfolgte.

Ein Ausschluss von sog. „wechselnden Mehrheiten“ ist Grundlage jeder Koalition, wird aber häufig auch von Fraktionen der Opposition insofern politisch verwendet, dass eben solche Anträge, deren Ablehnung durch die Koalitionsfraktionen mit Blick auf uneinheitliche Positionierungen innerhalb der Koalition zu erwarten ist, zu Glaubwürdigkeitskonflikten bei den Koalitionsfraktionen führen muss. Bereits vor diesem Hintergrund verbietet es sich für mich, für die Anträge der Opposition zu stimmen.

Zugleich erwarte ich von der Bundesregierung, die getroffenen Einigungen weiterzuentwickeln und noch weitere Hilfen und Evakuierungen vorzunehmen – solange und soweit die benannte Not auf europäischem und deutschem Boden abzuwenden ist. Auf Druck der SPD hin hat die Union immerhin mehr Bereitschaft zur Hilfe und Aufnahme von Menschen eingeräumt als noch zu Beginn.

So hat Deutschland bereits in der Nacht zum 11. September 2020 einen ersten THW-Konvoi auf den Weg nach Griechenland geschickt. Weitere folgten und sind in Vorbereitung. Auch das DRK hilft bei den kurzfristigen Lieferungen von Sachmitteln. Zur umfangreichen humanitären Hilfe vor Ort zählen etwa 1028 Zelte, 7000 Schlafsäcke, 1400 Feldbetten, 22 Sanitärcontainer, Decken und Schlafunterlagen. Deutschland hat zudem bei anderen europäischen Mitgliedstaaten dafür geworben, geflüchtete Menschen aus Griechenland aufzunehmen. Im Ergebnis beteiligen sich mittlerweile elf EU-Länder plus Norwegen und Serbien an der Aufnahme von Geflüchteten. Deutschland hat die Aufnahme von knapp 1.000 Menschen, unbegleiteten Minderjährigen, behandlungsbedürftigen Kindern und ihren Familien, zugesagt. In diesem Rahmen sind bislang 758 Geflüchtete aus Griechenland überstellt worden, 574 nach Deutschland, 184 in sechs weitere Länder. Es werden weitere 150 Kinder und Jugendliche und 1.553 Menschen, hauptsächlich Kinder und ihre Familien, in einem eigenständigen Kontingent aufgenommen.

Damit nimmt Deutschland nun insgesamt ca. 2.750 Personen aus Griechenland auf und leistet einen wichtigen Beitrag zur spürbaren Entlastung der griechischen Inseln. Dies alles ist auf unsere Initiative und gegen den erheblichen Widerstand des Koalitionspartners zustande gekommen.

Doch damit ist es aus Sicht der SPD-Bundestagsfraktion und der meinen – wie bereits dargelegt – nicht getan. Und auch auf eine europäische Lösung muss weiter hingearbeitet werden, selbst wenn sie noch so unerreichbar erscheint. Zugleich darf auf eben diese europäische Lösung nicht gewartet werden.

Parallel muss an einer Neuausrichtung der europäischen Flüchtlingspolitik und des gemeinsamen Europäischen Asylsystems gearbeitet werden. Die SPD-Bundestagsfraktion hatte hierzu bereits vor der Sommerpause einen klaren Beschluss mit konkreten Umsetzungsvorschlägen verabschiedet. Das Prinzip der Zuständigkeit des Ersteinreisestaates muss überwunden werden, da es zu einer überproportionalen Belastung der Staaten mit Europäischen Außengrenzen führt. Ferner bedarf es einer solidarischen Verteilung geflüchteter Menschen auf die einzelnen EU-Mitgliedstaaten.

Die EU-Kommission steht in der dringlichen Pflicht, Vorschläge für eben diese Neuausrichtung zu präsentieren. 

Mit der von Seiten der SPD-Bundestagsfraktion erklärten Forderung, die bereits benannten weiteren Hilfen zu mobilisieren und zugleich weitere Menschen schnell in aufnahmebereite Länder und Kommunen zu evakuieren setze ich mich mit der SPD-Fraktion weiter für die Überwindung des akuten Notstands in Griechenland ein. 

Aus den genannten Gründen stimme ich bei den Oppositionsanträgen mit nein.

Dr. Nina Scheer, MdB
Berlin, 18. September 2020

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