Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Nina Scheer zur namentlichen Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Einführung einer Speicherpflicht und Höchstspeicherfrist für Verkehrsdaten (Drucksache 18/5088) am 16. Oktober 2015
Ich erkenne an, dass mit dem vorliegenden Gesetzentwurf versucht wurde, eine Vereinbarkeit zwischen Schutzinteressen der öffentlichen Sicherheit und solchen des Datenschutzes herzustellen. Hierfür hatten auch das Bundesverfassungsgericht und der Europäische Gerichtshof Maßgaben aufgestellt. Aber der durch den Gesetzentwurf gestaltete Rahmen für eine Speicherung von Telekommunikationsverkehrsdaten in Form einer Vorratsdatenspeicherung, der auch Mindest- bzw. Höchstspeicherfristen vorsieht, ermöglicht verdachts- und anlassunabhängige Eingriffe, die in dieser Breite gerechtfertigt und angemessen sein müssen. Andernfalls werden verfassungsrechtliche Datenschutzinteressen ausgehöhlt.
Der mit anlassunabhängiger Vorratsdatenspeicherung unterstellte Nutzen ist bislang nicht erwiesen; weder zur Verbrechensprävention noch zur Verbrechensverfolgung sind nach den Erfahrungen mit Vorratsdatenspeicherungen erhöhte Präventionswirkungen bzw. Aufklärungsquoten zu erwarten. Kriminelle wissen verschärfter Überwachung auszuweichen. Der technische Fortschritt eröffnet immer neue Wege gesetzlich dann noch nicht erfasster Datenflüsse. In Ländern mit Vorratsdatenspeicherung – z.B. Frankreich – konnte trotz Bekanntheit der Attentäter der Anschlag im Januar 2015 auf die Redaktion der französischen Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ nicht verhindert werden. In Deutschland gab es unter geltender Vorratsdatenspeicherung (2008-2010) keine vergleichsweise erhöhte Aufklärungsquote. Erst wenn ein entsprechender Nutzen gegeben wäre, könnte darüber befunden werden, ob und in welcher Form die betreffenden Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gerechtfertigt und verhältnismäßig wären. Eine Kompletterfassung, wie sie mit einer verdachts- und anlassunabhängigen Vorratsdatenspeicherung ermöglicht wird, verbreitet in der Gesellschaft eine grundlegende Unsicherheit, wer worüber was weiß.
Im Urteil des Bundesverfassungsgerichtes heißt es (BVerfG, Urt. v. 2. März 2010–1 BvR 256/08, Rn. 212): „(…) die anlasslose Speicherung von Telekommunikationsverkehrsdaten [ist] geeignet, ein diffus bedrohliches Gefühl des Beobachtetseins hervorzurufen, das eine unbefangene Wahrnehmung der Grundrechte in vielen Bereichen beeinträchtigen kann.“ Dies kann zu einer grundsätzlichen Befangenheit in der Kommunikation führen, was nicht geschehen darf.
Vor diesem Hintergrund erachte ich eine Vorratsdatenspeicherung, wie sie auch durch den vorliegenden Gesetzesentwurf anlassunabhängige grundrechtliche Eingriffe in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ermöglicht, von heute aus gesehen nicht für gerechtfertigt und werde bei der Verabschiedung des oben genannten Gesetzes mit nein stimmen.
Dr. Nina Scheer, MdB
Berlin, vom 16. Oktober 2015
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